Alles fing mit einem toten Mädchen an. Schon seit ihrer Kindheit plagte Marianne dieser wiederkehrende Traum. Flüchtend vor einem Monstrum hastete das Mädchen durch den nächtlichen Wald. Der Lichtschein einiger Laternen ließ sie die Richtung ändern. Doch das Licht war keine Rettung. Lediglich eine kurze Hoffnung. Denn der beleuchtete Weg mündete in einen Steg. Das Mädchen erkannte die Sackgasse zu spät. Als sie sich vom See abwandte, schloss ihr Verfolger bereits bis auf drei Meter zu ihr auf. Langsam hob er seine Pistole und drückte ab.
Marianne verbrachte ihr ganzes Leben damit, über das Ende unserer Realität zu blicken. Bereits als Kind erlitt sie schwere Verbrennungen. Die Nah-tot-Erfahrung und das Feuer verschmolzen ihr Geister-Selbst mit ihrer materiellen Form. Was es ihr ermöglichte Dinge zu sehen, die normale Menschen nicht aushalten würden. Ihrem Ziehvater Jack machte es nichts aus, wie seltsam sie war. Er lehrte sie, es als Gabe und nicht Fluch zu sehen. Das sie gemeinsam über Jacks Beerdigungsinstitut wohnten, half Marianne beim Verstehen dieser Gabe. Mit der Zeit überbrachte das Medium ihren Mitschülern Nachrichten von verstorbenen Verwandten. Gesten, die bei denen jedoch nicht immer gut ankamen und Marianne von gleichaltrigen distanzierten.
Mittlerweile waren viele Jahre vergangen. Marianne war längst erwachsen und Jack kürzlich verstorben. An dem Tag bereitete sie ihn für die Beerdigung vor. Und dann passierte es. Wie schon unzählige Male zuvor. Das Licht begann zu flackern. Die Tür zu Jacks Büro schlug zu. Und dann kam die Spaltung. Sie setzte immer ein, wenn ein Ort eine Geschichte zu erzählen hatte. Dieses Mal war es Jack, der sein Notizbuch suchte. Marianne bekam eine Gelegenheit, für welche die meisten Menschen alles geben würden. Sie durfte sich von Jack verabschieden. Ihre Berührung geleitete ihn ins Jenseits. Wann immer sie den Namen einer verstorben Seele kannte, war sie in der Lage, dieser beim finalen Schritt zu helfen. Bis zu dem Zeitpunkt glaubte Marianne, sie sei die Einzige auf der Welt, der das möglich wäre. Aber der folgende Anruf, ließ sie daran zweifeln.
Der Anrufer sprach sie mit ihrem Vornamen an, obwohl sie schwören konnte, ihn nicht zu kennen. Thomas, so sein Name, versprach ihr Antworten, auf all die Fragen zu geben, nach denen sie in ihrem Leben suchte. Sie müsse lediglich zum Niwa-Volksresort kommen und ihm helfen. Ihr Verstand riet Marianne, den Fremden abzuwimmeln. Doch dann zitterte er die magischen Worte: „Alles beginnt mit einem toten Mädchen“. Wenige Minuten später saß Marianne bereits auf ihrem Motorrad. Denn seit diesen Worten vertraute sie dem Unbekannten. Außerdem plagte sie das Gefühl, die Stimme schon mal irgendwo gehört zu haben.
Nicht viele Leute wussten überhaupt vom Niwa-Volksresort. Denn um den polnischen Urlaubsort regte sich eine moderne Legende. Die einstiege Hotelanlage war angeblich Schauplatz eines Massakers. Inklusive durchgedrehter Arbeiter und uralter Flüche. Das Übliche eben. Aber als Marianne die Anlage erreichte, spürte sie sofort etwas anormales. Die Aura des Ortes war intensiver als alles, was Marianne zuvor erlebte. Wie eine Deponie von Erinnerungen und Emotionen. Schon als sie das Foyer betrat überschlugen sich die Ereignisse. Die Glocke der Rezeption läutete, ohne das jemand in der Nähe war. Dann hüpfte ein bunter Gummiball die Wendeltreppe herab und gerade, als sie danach griff, kam die Spaltung. Der Ball gehörte einem jungen verstümmelten Mädchen, das sich ihr als Sadness vorstellte. Das war zumindest der einzige Name, welcher der Einarmigen in Erinnerung blieb. Sadness freute sich, nach Jahren der Einsamkeit endlich wieder jemanden zum Spielen zu haben. Denn das Massaker vertrieb sie alle. Nur wenige blieben und die waren laut ihr äußerst zornig.
Auf Mariannes Frage nach Thomas, führte das Geister-Mädchen sie in die Tagesstätte des zweiten Stocks. Dort rekonstruierte Marianne aus Erinnerungsfragmenten und Tagebucheinträgen, die Anfänge der Urban Legend.
Richard Tarkowski, ein Professor der nahegelegenen Universität, nahm einen jungen Fabrikarbeiter namens Thomas Rekowicz in Therapie. Sie hegten ein ähnliches Verhältnis wie Jack und Marianne. Denn Thomas Eltern verstarben damals beim Warschauer Aufstand. Eine Nah-tot-Erfahrung, die es Thomas ermöglichte Seelen auszulöschen und nur die geistlose Hülle des Opfers zurück zu lassen. Der Regierung entging diese Gabe nicht, als der Junge in deren Obhut fiel. So begannen die Experimente. Es dauerte Jahre, bis Thomas zur Behandlung bei Richard ankam. Nur deutete Richard Thomas Schilderungen anders als Jack. Richards Therapie bestand stattdessen aus Malerei. Thomas schilderte seine verstörten Eindrücke der Geisterwelt und er fing sie in Gemälden ein. Was den Therapeuten im Laufe der Jahre zu Polens berühmtesten surrealen Künstler aufsteigen ließ. Ungeachtet dessen versuchte er Thomas zu bewegen, selbst zu malen und dafür ein Studium an seiner Uni zu absolvieren. Nach Jahres der Weigerung gab Thomas eines Tages nach. Er studierte jedoch nicht Kunstgeschichte, Malerei o.ä., sondern Architektur. Dieses Studium minderte ihre gemeinsamen Sitzungen, bis Thomas sich eines Tages in eine wunderschöne und intelligente Frau verliebte. Mit ihrer folgenden Verlobung, trennten sich seine und Richards Wege endgültig.